Mit dem Bergsteigen ist es wie mit dem Kochen – ein professionelles Menü kreiert sich nicht von selbst. Um einen Gaumenschmaus auf den Tisch oder eine gelungene Tour unter den Hut zu bringen, braucht es breites Know-how, einiges an Übung und viel Erfahrung. An manchen Tagen schmeckt’s dann halt gut, an anderen eher nicht so. Oft hängt das davon ab, ob wir die Zutaten richtig kombinieren, die Schwierigkeiten korrekt einschätzen und die Verhältnisse stimmen. Obwohl sich der Aufstieg zum 3103 m hohen Pizzo Cassinello für mich ganz schön gesalzen angefühlt hat, war er im Abstieg dann der wahrste Genuss und im Abgang ein endloser Hatsch. Eine Menü à la Cassinello.
Zum Einstieg in unsere Tour auf den Pizzo Cassinello wird uns sozusagen als Gruss aus der Küche ein 800 m langer und eiskalter Tunnel serviert. Nach nur wenigen Minuten Morgensonne tauchen wir in das schwarze Loch auf der gegenüberliegenden Seite der Staumauer am Lago di Luzzone ein. Wir verschwinden in der Dunkelheit und unserer Hände tief in den Hosentaschen.
Im Aufstieg zum Passo di Soreda, an dem wir später zum Gipfel abzweigen werden, stossen wir auf die um diese Jahreszeit bereits verlassene Alpe Scaradra di Sotto. Der Brunnen verlockt mich zum Auffüllen meiner Wasserreserven. Allerdings ist diese Suppe versalzen: beim Check der Wasserqualität in meiner Flasche bleibt mein Blick an vielen kleinen schwarzen Partikeln hängen, die dort sicher nicht hingehören. Da ist dem Koch wohl die Gewürzdose ausgerutscht und ich bin meine Wasserreserven für die restliche Tour los. Vielleicht finden wir weiter oben ja noch eine saubere Quellwasserbar, an der wir uns versorgen können.
Gepfeffert ist dann auch das Couloir zum Passo di Soreda hinauf. Eigentlich kenne ich diesen Wegabschnitt bereits, denn schon 2014 waren wir hier auf einer zweitägigen Biwaktour unterwegs. Manchmal schmeckt’s einem aber einfach nicht und heute sind mir die hohen Tritte und die bröselig felsigen Stufen und Eisentritte eine Spur zu scharf. Mit unsicherem Tritt und wie ein ungelenkes Lebkuchenmännchen komme ich nur langsam voran. Bei einem ordentlichen Menü steht als dritter Gang zumeist Fisch an. Aber wie ein Fisch im Wasser fühle ich mich hier definitiv nicht. Eher wie einer auf dem Trockenen.
Am Passo di Soreda kann ich kurz verdauen, bevor es mit dem Hauptgang weitergeht. Der blau-weiss markierte Weg über meist plattiges Gelände zum Pizzo Cassinello ist von der letzten Kaltfront leicht gezuckert. Die Schneefelder lassen den Berg wie mit Zuckerguss glasiert strahlen. Die einzelnen Felsblöcke schauen wie Streusel aus der weissen Masse.
Plattengelände und Schnee? Ich bin mir nicht so sicher, ob das nach meinem Gusto ist. Aber jetzt einfach umzukehren, ohne den Gipfel in Angriff genommen zu haben? Das würde mich mit einem Loch im Bauch zurücklassen, ich kann den Gipfelbraten ja schon förmlich riechen. Also steigen wir auf den Zuckerberg und siehe da, der Schnee hält auf den riesigen Granitplatten besser als gedacht und gefühlt kleben wir in der zähen Zuckermasse. Ein paar grössere Spalten zwischen den Felsblöcken sind schnell überwunden und dank der Spuren weiterer Wanderer, die etwas früher als wir unterwegs waren, wird uns der Aufstieg sozusagen auf dem Silbertablett serviert.
Der höchste Punkt des Pizzo Cassinello ist mit einem Täfelchen und drei Steinmännchen markiert und somit kaum zu verfehlen. Hier oben erwartet uns eine wahre (Gaumen-)Freude. Das 360° Panorama lässt uns dahinschmelzen und wir können gar nicht genug bekommen vom Anblick der umliegenden Bergwelt. Vom Lago di Luzzone über das Zervreilahorn bis hinüber zum Rheinwaldhorn geniessen wir die volle Ladung Deluxe-Panorama. Wir sagen: Delicious!
Irgendwann haben wir es dann aber doch satt und treten den Rückweg an. Die Zuckerplatten, die in der Nachmittagssonne rutschiger werden, lassen wir schnell hinter uns. Aber da ist ja noch der steile Abstieg vom Passo di Soreda hinunter ins Val Scaradra. Der Gedanke daran lässt mir nicht gerade das Wasser im Mund zusammenlaufen. Etwas nervös stochere ich mit meinem Stock an den ersten Tritten herum, probiere ein, zwei steile Stufen und merke plötzlich: gar nicht so schlecht. Vorsichtig schlängele ich mich auf dem Weg weiter nach unten und mit jedem Höhenmeter den wir verlieren, wächst meine Trittsicherheit. Nach ein paar Stufen kann ich den Abstieg sogar mehr und mehr geniessen. Verwundert darüber, wie der gleiche Wegabschnitt innerhalb von wenigen Stunden so unterschiedlich auf mich wirken kann, nehmen wir auch noch die restlichen 1000 Höhenmeter unter die Füsse. Nur ein Stop an der Bergwasser-Bar, einer Quelle, die direkt dem Fels entspringt, kann uns noch kurz halten. Prost!
Bitter wird am Ende nur unser Dessert. Denn anstatt einer abwechslungsreichen Käseplatte bekommen wir auf den letzten Kilometern Forststrasse eher Plattfüsse, bis wir wieder a unserem Startpunkt vom Morgen ankommen. So müde und zufrieden wie nach einem mehrgängigen Menü. Aber mit dem Unterschied, dass und jetzt erst so richtig der Magen knurrt. Anstatt auf einen Absacker im Restaurant geht’s ab nach Hause zu einem leckeren Abendessen – vermutlich mit nur einem Gang. 😉