Forcarella di Lago – Weite Wege für weite Blicke
StoriesSeptember 2020

Über 2000 Höhenmeter im Aufstieg, über 20 km Wegstrecke und über den Dächern Biascas. Die Runde über die Forcarella di Lago und einmal rund um den Pizzo Magn ist lang, aber nie langweilig.

Ein langer Tag geht zu Ende

Nach über acht Stunden spüren wir zum ersten Mal wieder harten Asphalt unter unseren Wanderschuhen. „Oben oder unten lang?“ fragt mich Falko von der Seite, ohne seine Präferenz für unseren letzten Wegabschnitt durchschimmern zu lassen. „Unten“ fällt meine Antwort kurz und entschlossen aus. Denn oben würde bedeuten, dass wir nochmals 72 Höhenmeter aufsteigen müssten, nur um sie dann auf unserem restlichen Abstieg nach Biasca wieder abzusteigen. 72 Höhenmeter sind beim Wandern nicht wirklich viel. Aber nachdem wir seit heute Morgen über die Forcarella di Lago mehr als 2000 Meter im Auf- und Abstieg bewältigt haben, erscheint mir diese Zahl an Höhenmetern jetzt unüberwindbar. Wir gehen unten lang.

Kurz darauf stehen wir neben unserem Auto in Biasca. Mit müden Beinen, heissen Füssen, steifem Rücken, dicken Waden und einem breiten Grinsen im Gesicht. Auf diesem Parkplatz, der mittlerweile von der Sonne aufgeheizt ist, haben wir unsere Wanderung am Morgen gestartet.

Was wird uns der heutige Tag bringen?

Aufbruch in Biasca

Am Morgen ist die Luft noch kühl und die Strassen liegen im Schatten des steil aufragenden Massivs des Pizo Magn. Auf dem Wanderschild, welches uns den Weg aus den Gassen von Biasca anzeigt, steht schwarz auf gelb „Capanna Cava: 5 Stunden 50 Minuten“. Ich überschlage im Kopf hektisch die Zeit für den Abstieg von der Hütte, die den am weitesten entfernten Punkt unserer Wanderung darstellt, und komme zum Schluss: Das wird ein langer Tag.

Natürlicher Balkon der Alpe Pianezza hoch über Biasca

Mit jedem Schritt und jedem Höhenmeter weitet sich der Blick über den Talkessel. Die Häuser werden kleiner, die Autos sehen mittlerweile aus wie Spielzeugautos, die ferngesteuert durch die Strassen kurven. Im Tal fädelt sich links die Autobahn aus dem Süden ins Valle Leventina Richtung Gotthard ein und rechts breitet sich das Sportzentrum mit Fussballplatz und Tartanbahn verschlafen im Schatten aus. 600 Höhenmeter steigen wir mit dieser Aussicht auf, die den Eindruck vermittelt, als würden wir endlos langsam aus dem Talkessel heraus zoomen. Der Lärm der Zivilisation, Motorengeräusche, Hupen, Glockenläuten, Baustellenlärm. Alles verliert sich in den leisen Geräuschen der Natur, die uns umgeben. Eidechsen rascheln nervös im Laub und Insekten zischen an unseren Ohren vorbei.

Alp Pianezza — Juwel oberhalb von Biasca

Wir gehen schweigend und in Gedanken versunken, fast schon meditativ. Bis wir die Alp Pianezza erreichen, ein wahres Kleinod hoch über Biasca. Unser monotones Wandern wird von dem kleinen, im Sommer bewirtschafteten Weiler durchbrochen und wir schauen uns neugierig zwischen den Gebäuden um. Anfang September sind leider weder Ziegen noch Menschen anzutreffen, aber alles vermittelt den Eindruck, dass die Rustici mit viel Liebe zum Detail hergerichtet sind. Die Wiesen sind vor nicht all zu langer Zeit gemäht worden, die Brunnen beschriftet. Einer davon führt Trinkwasser und wir nutzen die Gelegenheit und füllen unsere Reserven auf. Ein kleiner Schuppen war vielleicht einmal eine Schmiede. An der Wand neben dem restaurierten Tor hängen fein säuberlich in einer Reihe verschiedenste Werkzeuge, Hammer und Amboss stehen bereit. Alles erinnert an frühere Zeiten, wie in einem Freilichtmuseum.

Einmal nicht aufgepasst, schon falsch abgebogen

Wir könnten den ganzen Tag hier sitzen und unsere Blicke über die Talebene von Biasca schweifen lassen, aber es zieht uns weiter. Wir wollen höher hinaus. Ein paar Serpentinen später treffen wir auf Zeitzeugen, die ein anderes Schicksal erzählen. Nicht alle früheren Alpen werden heute noch bewirtschaftet und die Ruinen der eingefallenen Rustici zeigen die Aufgabe, den Verfall und die Abwanderung, welcher viele der abgelegenen Weiler ausgesetzt sind.

Lange Schatten, aber keine langen Gesichter.

An der Alpe di Compiett steigt aus den Schloten Rauch auf. Die Häuschen drängen sich an den Rand der kleinen Ebene. Auch hier begegnen wir keiner Menschenseele. Der kleine Wasserfall des Ri della Froda fesselt unseren Blick und kurz verlieren wir den Weg aus den Augen. Am Flusslauf suchen wir die Spuren, die uns zur Alpe di Lago führen sollen. Links? Rechts? Zurück! Die Erkenntnis: Wir haben uns von Wegspuren der Waldarbeiter verleiten lassen und den Abzweig zur Capanna Cava verpasst.

Sonne, Wolken und rauschendes Wasser - das beste All-inclusive für mich!

Lago — einfach, aber schön

Die steilen Trampelpfade hinauf zum Rifugio überqueren steinige Bachläufe und testen unserer Weitsprungtechnik. An meiner Grazie lässt sich wohl noch arbeiten. 🙈 Am Rifugio selbst entschädigt der Blick auf den kleinen Bergsee Lago für die Anstrengung, die nötig war, um bis hierher zu kommen. Lago, wie weiter? Der See hat tatsächlich keinen weiteren Namen erhalten und mehr als durch einen klangvollen Namen verzaubert er mit dem Spiegelbild der umliegenden Berge und vorbeiziehender Wolken. Direkt hinter dem Steingebäude baut sich eine Wand aus Fels und Gras auf. Auf einer klaren Linie schlängelt sich der Weg durch diesen auf den ersten Blick unüberwindbaren Felsriegel bis zur Forcarella di Lago. Was einen am Pass selbst erwartet, bleibt bis ganz zuletzt hinter massivem Fels verborgen.

Forcarella di Lago — nach 2000 Höhenmetern endlich am Ziel

Ein letztes Zickzack zwischen Felsblöcken, dann ist der schmale Durchschlupf am höchsten Punkt erreicht. Nach 2000 Höhenmetern im Aufstieg treten die Felsen plötzlich zurück und machen Platz für ein umwerfendes Panorama. Unsere Blicke schweifen über die Hochebene der Alpe di Cava, die sich wie ein Fächer unter uns ausbreitet. Links stehen Alpgebäude, eine Herde Kühe weidet in der Nähe. Rechts liegen die Seen Laghetti die Cava und mitten drin sitzt die Capanna Cava mit ihrer verlockenden Terrasse. Gesäumt wird die Szenerie von einer Reihe Fast-Dreitausender, deren höchster Punkt im Torent Basso gipfelt. Weitblicke, die für den Aufstieg belohnen. Unsere Beinmuskeln sind dankbar für eine längere Pause, die wir hier einlegen. Nicht zuletzt, weil noch ein weiter Abstieg auf uns wartet.

Spiegelbild einer Wanderung. Wild, weit und einsam.

Langer Abstieg zurück ins Tal nach Biasca

Die Capanna Cava lassen wir rechts liegen, bevor wir an der Nordost-Flanke des Pizzo Magn oberhalb des Val Pontirone den Weg Richtung Biasca einschlagen. Über die ersten Kilometer, die wir talauswärts laufen, verlieren wir nur wenig an Höhe. Ohne den Blick auf den Höhenmesser hätte ich durch die vielen winzigen Gegenanstiege das Gefühl, mehr an Höhe zu gewinnen, als zu verlieren. Kaum umrunden wir aber die letzte Geländeschulter, kann es kaum steil genug bergab führen. In engen Serpentinen sucht sich der Weg durch karg bewachsene Buchenwälder und lichte Haselstauden sein Ziel.

So wie wir dem Tal entgegenfiebern, purzeln auch die Zahlen auf dem Display meiner GPS-Uhr. „Nur noch 400 Höhenmeter“ verkünde ich jedes Mal freudig, wenn wir wieder eine Hundertermarke unterschreiten. Falko will das allerdings gar nicht hören. Er will nur laufen, je zügiger, desto besser. Denn der lange Weg ins Tal gehört nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

Mit jedem Höhenmeter, den wir verlieren und unserem Ausgangspunkt wieder näher kommen, wird es in der Nachmittagssonne ein bisschen wärmer, unsere Beine noch ein bisschen schwerer, der Rücken ein bisschen steifer. Und unsere Laune? Wird mit jedem Schritt besser. Wir begegnen den ersten Spaziergängern, als Falko auffällt: „Ist dir eigentlich bewusst, dass wir den ganzen Tag lang bis auf zwei ältere Menschen an ihren Rustici keine Menschenseele getroffen haben?“. Er hat recht. Selten habe ich direkt aus einer Stadt startend so eine einsame Wanderung unternommen, wie hier zur Forcarella di Lago. Wer auf der Suche nach einsamen Pfaden, abwechslungsreichen Aufstiegen, aussichtsreichen Gipfeln und ausgedehnten Routen ist, wird das Wandereldorado rund um Biasca und im Bleniotal lieben.

Nach über acht Stunden stehen wir wenige Höhenmeter oberhalb von Biasca an einer Kreuzung. „Oben oder unten lang?“ Die Entscheidung ist einfach. Denn jetzt nochmals 72 Höhenmeter aufsteigen, bevor wir unseren Ausgangspunkt, unser Ziel endgültig erreichen, wäre dann doch etwas zu viel des Guten.

Letzte Hürde: überqueren des Schuttkegels am Crenone. So, jetzt is' fertig!

Informationen zur Route

Wanderung zur Forcarella di Lago
T2 (E2)

Lange und einsame Wanderung mit kristallklaren Bergseen, idyllischen Rusticos und einem versteckten Kleinod am Weg hinauf in die Forcarella di Lago.

Zahlen & Fakten

Schwierigkeitsgrad

Ernsthaftigkeit

Markierung

Zeitbedarf

Aufstieg

Abstieg

Höchster Punkt

2'256 m

Gesamtdistanz

20 km

Region

SchweizTessin

Aktivität

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Wir starten die Wanderung zur Forcarella di Lago an der romanischen Kirche von Biasca. Ein weiss-rot-weiss markierter Wanderweg führt uns von der kleinen Tessiner Stadt weg und hinauf an einem einzelnen Weinberg vorbei und unter einer Materialseilbahn hindurch, die wir 500 Höhenmeter später erneut passieren werden. Bei P. 601 wenden wir uns anstatt wie bisher nordwärts auf den steilen Bergweg, der sich in unzähligen Kehren rechts hinauf windet. Auf 877 m Höhe passieren wir die romantische Alpe Pianezza, eine mit viel Liebe zum Detail hergerichtete Alp hoch über Biasca und mit wunderschöner Aussicht über das Bleniotal.

Uns stehen weitere knappe 600 Höhenmeter bevor, auf denen der Wanderweg kontinuierlich Kehre um Kehre durch eine Vegetationszone voller Birken und Erlensträucher nach oben führt. Auf 1'300 m Höhe öffnet sich langsam das Bild und wir erreichen offenes Alpgelände. Bei A Metüsc wendet sich der Weg nach Süden, um wenige hundert Meter später einen scharfen Knick nach Osten zu machen und uns zur Alpe di Compiett auf 1'509 m leitet.

Nun nicht zu weit in den Talkessel hinein, sondern den markierten Weg in Richtung Forcarella di Lago wählen, der durch ein kleines Wäldchen ostseitig des Talkessels hinauf führt. Auf knap 1'800 m Höhe überqueren wir das Bachbett des Ri della Frida. Die nächste Station, nun bereits mit einigen Höhenmetern in den Beinen, ist die unbewartete Alpe di Lago sowie der gleichnamige See auf 2'089 m. Rund 150 weitere Höhenmeter müssen nun noch überwunden werden, bevor wir endgültig den höchsten Punkt dieser langen Wanderung erreichen und auf dem Passübergang der Forcarella di Lago auf 2'256 Meter Höhe stehen.

Vor uns öffnet sich der ausgedehnte Talkessel des Val Pontirone unterhalb des dominierenden Torrent Alto, dem höchsten Berg in dieser Ecke mit 2'956 m. Unter uns liegt die Alpe di Lava mit der bewarteten Capanna Cava, in der wir uns nach diesem langen Aufstieg erfrischen können. Wir halten uns nun nordwärts in Richtung Forcarella di Cava, bevor sich der Weg nach Nordwesten wendet und der lange Abstieg zurück nach Biasca beginnt.

Die ersten knapp drei Kilometer geht es ohne nennenswerten Höhenverlust bis zum kleinen Weiler In Svall, in dessen Nähe wir dann steil Meter um Meter an Höhe verlieren. So langsam der Abstieg bis hier verlief, um so schneller nähern wir uns nun dem Tal und passieren mehrere kleine Alpen und einzelne Rustico, bevor wir schlussendlichd en beeindruckenden Talkessel mit dem Crenone durchqueren. Ein Blick nach oben überzeugt uns davon, dass kein Steinschlag droht und rasch meistern wir diese letzte Hürde, bevor wir kurz auf einer asphaltierten Strasse und anschliessend ein letztes Stück auf einem Wanderweg wieder nach Biasca gelangen, wo wir vor vielen Stunden gestartet sind.

T2 nach SAC-Skala. Der Weg weist keine besonderen technischen Anforderungen auf. Die hauptsächliche Schwierigkeit der Tour liegt in ihrer Länge und der Distanz, die man zurück legt. Es gibt keine Möglichkeit zur Abkürzung oder Seilbahnnutzung, auch nicht auf der Seite der Capanna Cava. Fliessendes Wasser ist je nach Jahreszeit rar und man sollte sich mit ausreichend zu Trinken versehen.

An einer Stelle im Aufstieg muss der Ri della Froda überquert werden sowie im Abstieg kurz vor Biasca die Crenone. Bei sehr hohem Aufkommen von Schmelzwasser oder nach starken Regenfällen können diese Querungen unter Umständen anspruchsvoll sein.

Beste Jahreszeit

Juni bis Oktober. Durch das mediterrane Klima im Tessin und die nicht allzu grosse Höhe ist diese lange Wanderung relativ lang im Jahr machbar. Achtung: aus dem Tal ist die Forcarella di Lago nicht einsehbar und daher auch keine Abschätzung zur Schneelage möglich.

Anfahrt

Verschiedene Parkmöglichkeiten im Zentrum von Biasca. Es gibt keinen dedizierten Wanderparkplatzt, dennoch sollte es problemlos möglich sein, einen Parkplatz in der Nähe des Ausgangspunktes an der Kirche zu finden.

Ausgangspunkt

Ausgangspunkt ist Biasca mit der romanischen Kirche, von wo aus der markierte Wanderweg startet.

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Gut zu wissen

Lange und sehr einsame Wanderung oberhalb des geschäftigen Bleniotals.

Unbedingt eine Pause an der Alpe Pianesca einlegen und die sorgfältig gepflegten Gebäude und die vielen liebevoll hergerichteten Details bestaunen.

An der Capanna Cava besteht die Möglichkeit zur Übernachtung und Einkehr.

Auf der Alpe di Cava befindet sich häufig eine grosse Kuhherde mit Mutterkühen. Diese lässt sich je nach Vorliebe durch eine etwas höher als die Hütte angelegte Querung weglos umgehen.

Bei grosser Hitze sollte unbedingt auf das Mitführen von ausreichen Flüssigkeit geachtet werden, da sich insbesondere der Rückweg hinzieht und es keine Möglichkeit zur Einkehr gibt.

Datum der Informationen

August 2020

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Über den Autor Marina Kraus

Marina Kraus
Marina ist am liebsten draussen unterwegs – Schritt für Schritt, bergauf, bergab, mittendrin statt nur dabei. Als Wanderleiterin beim Schweizer Bergführerverband plant und führt sie Touren für unsere Gäste, immer auf der Suche nach besonderen Wegen, aussichtsreichen Pausenplätzen und Momenten, die bleiben. Sie liebt es, gemeinsam mit anderen draussen unterwegs zu sein – egal ob über felsige Grate oder durch tiefgrüne Wälder. Und für alle, die (noch) nicht mitkommen konnten, schreibt sie Geschichten vom Wegesrand: ehrlich, nahbar und mit dem gewissen beAnywhere-Gefühl im Gepäck.
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