Alpinwanderung auf den Pizzo Cassinello
StoriesJuni 2022

Gezuckert, gepfeffert und versalzen – Ein Menü à la Pizzo Cassinello. Die Wanderung auf den 3000er in der Adula Gruppe lassen wir uns so richtig schmecken.

Mit dem Bergsteigen ist es wie mit dem Kochen – ein professionelles Menü kreiert sich nicht von selbst. Um einen Gaumenschmaus auf den Tisch oder eine gelungene Tour unter den Hut zu bringen, braucht es breites Know-how, einiges an Übung und viel Erfahrung. An manchen Tagen schmeckt’s dann halt gut, an anderen eher nicht so. Oft hängt das davon ab, ob wir die Zutaten richtig kombinieren, die Schwierigkeiten korrekt einschätzen und die Verhältnisse stimmen. Obwohl sich der Aufstieg zum 3103 m hohen Pizzo Cassinello für mich ganz schön gesalzen angefühlt hat, war er im Abstieg dann der wahrste Genuss und im Abgang ein endloser Hatsch. Eine Menü à la Cassinello.

Zum Einstieg in unsere Tour auf den Pizzo Cassinello wird uns sozusagen als Gruss aus der Küche ein 800 m langer und eiskalter Tunnel serviert. Nach nur wenigen Minuten Morgensonne tauchen wir in das schwarze Loch auf der gegenüberliegenden Seite der Staumauer am Lago di Luzzone ein. Wir verschwinden in der Dunkelheit und unserer Hände tief in den Hosentaschen.

Tunnelblicke am Lago di Luzzone

Im Aufstieg zum Passo di Soreda, an dem wir später zum Gipfel abzweigen werden, stossen wir auf die um diese Jahreszeit bereits verlassene Alpe Scaradra di Sotto. Der Brunnen verlockt mich zum Auffüllen meiner Wasserreserven. Allerdings ist diese Suppe versalzen: beim Check der Wasserqualität in meiner Flasche bleibt mein Blick an vielen kleinen schwarzen Partikeln hängen, die dort sicher nicht hingehören. Da ist dem Koch wohl die Gewürzdose ausgerutscht und ich bin meine Wasserreserven für die restliche Tour los. Vielleicht finden wir weiter oben ja noch eine saubere Quellwasserbar, an der wir uns versorgen können.

Gepfeffert ist dann auch das Couloir zum Passo di Soreda hinauf. Eigentlich kenne ich diesen Wegabschnitt bereits, denn schon 2014 waren wir hier auf einer zweitägigen Biwaktour unterwegs. Manchmal schmeckt’s einem aber einfach nicht und heute sind mir die hohen Tritte und die bröselig felsigen Stufen und Eisentritte eine Spur zu scharf. Mit unsicherem Tritt und wie ein ungelenkes Lebkuchenmännchen komme ich nur langsam voran. Bei einem ordentlichen Menü steht als dritter Gang zumeist Fisch an. Aber wie ein Fisch im Wasser fühle ich mich hier definitiv nicht. Eher wie einer auf dem Trockenen.

Am Passo di Soreda kann ich kurz verdauen, bevor es mit dem Hauptgang weitergeht. Der blau-weiss markierte Weg über meist plattiges Gelände zum Pizzo Cassinello ist von der letzten Kaltfront leicht gezuckert. Die Schneefelder lassen den Berg wie mit Zuckerguss glasiert strahlen. Die einzelnen Felsblöcke schauen wie Streusel aus der weissen Masse.

Plattiger Aufstieg auf den Pizzo Cassinello

Plattengelände und Schnee? Ich bin mir nicht so sicher, ob das nach meinem Gusto ist. Aber jetzt einfach umzukehren, ohne den Gipfel in Angriff genommen zu haben? Das würde mich mit einem Loch im Bauch zurücklassen, ich kann den Gipfelbraten ja schon förmlich riechen. Also steigen wir auf den Zuckerberg und siehe da, der Schnee hält auf den riesigen Granitplatten besser als gedacht und gefühlt kleben wir in der zähen Zuckermasse. Ein paar grössere Spalten zwischen den Felsblöcken sind schnell überwunden und dank der Spuren weiterer Wanderer, die etwas früher als wir unterwegs waren, wird uns der Aufstieg sozusagen auf dem Silbertablett serviert.

Der höchste Punkt des Pizzo Cassinello ist mit einem Täfelchen und drei Steinmännchen markiert und somit kaum zu verfehlen. Hier oben erwartet uns eine wahre (Gaumen-)Freude. Das 360° Panorama lässt uns dahinschmelzen und wir können gar nicht genug bekommen vom Anblick der umliegenden Bergwelt. Vom Lago di Luzzone über das Zervreilahorn bis hinüber zum Rheinwaldhorn geniessen wir die volle Ladung Deluxe-Panorama. Wir sagen: Delicious!

Absprungbereit: tief unten liegt der Lago di Luzzone

Irgendwann haben wir es dann aber doch satt und treten den Rückweg an. Die Zuckerplatten, die in der Nachmittagssonne rutschiger werden, lassen wir schnell hinter uns. Aber da ist ja noch der steile Abstieg vom Passo di Soreda hinunter ins Val Scaradra. Der Gedanke daran lässt mir nicht gerade das Wasser im Mund zusammenlaufen. Etwas nervös stochere ich mit meinem Stock an den ersten Tritten herum, probiere ein, zwei steile Stufen und merke plötzlich: gar nicht so schlecht. Vorsichtig schlängele ich mich auf dem Weg weiter nach unten und mit jedem Höhenmeter den wir verlieren, wächst meine Trittsicherheit. Nach ein paar Stufen kann ich den Abstieg sogar mehr und mehr geniessen. Verwundert darüber, wie der gleiche Wegabschnitt innerhalb von wenigen Stunden so unterschiedlich auf mich wirken kann, nehmen wir auch noch die restlichen 1000 Höhenmeter unter die Füsse. Nur ein Stop an der Bergwasser-Bar, einer Quelle, die direkt dem Fels entspringt, kann uns noch kurz halten. Prost!

Bitter wird am Ende nur unser Dessert. Denn anstatt einer abwechslungsreichen Käseplatte bekommen wir auf den letzten Kilometern Forststrasse eher Plattfüsse, bis wir wieder a unserem Startpunkt vom Morgen ankommen. So müde und zufrieden wie nach einem mehrgängigen Menü. Aber mit dem Unterschied, dass und jetzt erst so richtig der Magen knurrt. Anstatt auf einen Absacker im Restaurant geht’s ab nach Hause zu einem leckeren Abendessen – vermutlich mit nur einem Gang. 😉

Typisches Tessiner Hochtal in der frühen Abendsonne

Informationen zur Route

Alpinwanderung auf den Pizzo Cassinello – 3102 m
T3+ (E2)

Langer Aufstieg auf einen hohen Tessiner Gipfel mit eindrücklichem Finale auf glattgeschliffenen Felsplatten.

Zahlen & Fakten

Schwierigkeitsgrad

Ernsthaftigkeit

Markierung

Zeitbedarf

Aufstieg

Abstieg

Höchster Punkt

3'102 m

Gesamtdistanz

19 km

Region

SchweizTessin

Aktivität

Wir starten unsere Besteigung des Pizzo Cassinello am Parkplatz der Staumauer des Lago di Luzzone. Ab hier stehen uns rund 1'500 Höhenmeter in unterschiedlichstem Gelände bevor. Zu Beginn folgen wir der südseitig des Sees verlaufenden Fahrstrasse durch einen langen Tunnel (Stirnlampe hilfreich, es geht aber auch ohne) und am Ufer des Stausees entlang bis zur Einmündung des Val Scaradras. Nachdem wir den Ri di Scaradras auf einer Brücke überquert haben, halten wir uns an dem hier nach rechts abbiegenden Wanderweg mit dem Ziel Passo di Soreda.

Nach knapp einem Kilometer endet für das Tessin so typische Vegetation der Erlengebüsche und wir erreichen die kleine Alpe Scaradra di Sotto, eine unbewirtschaftete Hütte, die höchstens von einigen Kühen oder Schafen besucht wird. Vorsicht an der dortigen Quelle: wir hatten nicht den Eindruck, dass man dieses Wasser trinken sollte.

Nach der Alp geht es stetig leicht ansteigend bis P. 2182, wo wir in Sichtweite des Rifugio Scaradra vorbei kommen. Diese auf einem felsigen Absatz gelegene Hütte ist in den Sommermonaten bewartet und kann als Stützpunkt für Touren rund um den Pizzo Cassinello genutzt werden. Zwischen Schafen hindurch bewegen wir uns weiter und erreichen den schuttigen 600 Meter langen Aufstieg zum Passo di Soreda (2'759 m). Teilweise mit Ketten oder kurzen Leitern und Trittbügeln versichert führt uns diese Teiletappe hinauf, bis wir am Pass angekommen einen ersten Blick hinüber in die Länta werfen können.

Würde man nun hier am Pass auf der anderen Seite absteigen, gelangt man an den Zervreila-Stausee. Wir biegen jedoch hier rechts auf den weiss-blau-weiss markierten Wanderweg in Richtung Pizzo Cassinello ab (markiert und beschildert). Am Grat entlang steigen wir in Richtung des plattigen Gipfelmassivs auf und verlassen alsbald die Kante, um auf dem eindrücklichen Felsaufbau den Steinmännchen zu folgen, die uns auf den Gipfel hinauf führen.

Vom Gipfel aus besteht die Möglichkeit, den Abstieg auf der gegenüberliegenden Seite über den Piz Cassimoi fortzusetzen und anschliessend entweder zur Läntahütte oder in Richtung Tessin ins Val Carassin abzusteigen.

Wir nutzen für den Abstieg dieselbe Route und steigen via Passo di Soreda ab, folgen dem Val Scaradra bis zum Lago di Luzzone vor und erreichen so wieder unseren Startpunkt an der beeindruckenden Staumauer.

Lange Bergwanderung im alpinen Gelände (T3+). Eine gute Kondition und sichere Wetterbedingungen sind Grundvoraussetzung für diese Tour. Vor dem Passo di Soreda einzelne Stellen mit Ketten und Trittbügeln gesichert. Insgesamt herrschen dort schuttige Verhältnisse vor und man sollte auf Steinschlag durch vorausgehende Personen achten.

Am Gipfelaufbau des Pizzo Cassinello können Schneefelder den Aufstieg erschweren. Sofern guter Trittschnee liegt, können diese aber unschwer passiert werden.

Im Bereich des Passo di Soreda herrscht Absturzgefahr am Weg entlang des Grates.

Etwas brüchige Passage unterhalb des Passo di Soreda.

Beste Jahreszeit

Durch die hohe Lage auf 3'102 m liegt noch recht lange Schnee, insbesondere im oberen Teil ab dem Passo di Soreda. Hier muss je nach Schneemenge sogar die Lawinengefahr in Betracht gezogen werden. Normalerweise herrschen ab Ende Juli/Anfang August Verhältnisse, in denen der Aufstieg zu Fuss gut machbar ist und eventuelle Schneefelder sicher gequert werden können.

Anfahrt

Von Biasca aus folgt man dem Valle di Blenio bis hinauf nach Olivone. Die Strasse wendet sich nach links in Richtung Nufenenpass. Am Ortsausgang von Olivone zweigt rechts die Strasse hinauf nach Blenio ab. Dieser folgen und kurz hinter Blenio (Ghirone) der beschilderten Strasse nach, die in mehreren Serpentinen an Höhe gewinnt und bis hinauf zur Staumaer des Lago di Luzzone führt. Entweder unterhalb der Staumauer oder den mittleren Tunnel wählend zum oberen Parkplatz.

Zum Lago di Luzzone verkehren auch Postautos.

Ausgangspunkt

Ausgangspunkt ist der offizielle, kostenpflichtige Parakplatz oben an der Staumauer des Lago di Luzzone. Hier gibt es auch ein Restaurant.

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Gut zu wissen

Eindrucksvolle Staumauer des Lago di Luzzone. An der Staumauer gibt es die höchste künstliche Kletterroute der Welt. Gegen Gebühr kann der Schlüssel zum Einstieg in die Route ausgeliehen werden und die fünf Seillängen zur Krone der Staumauer in Angriff genommen werden.

Eindrückliche Sicht auf Zervreilahorn, Güferhorn und Rheinwaldhorn, dem mit 3'402 m höchsten Gipfel in dieser Region.

Datum der Informationen

September 2020

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Über den Autor Marina Kraus

Marina Kraus
Marina ist am liebsten draussen unterwegs – Schritt für Schritt, bergauf, bergab, mittendrin statt nur dabei. Als Wanderleiterin beim Schweizer Bergführerverband plant und führt sie Touren für unsere Gäste, immer auf der Suche nach besonderen Wegen, aussichtsreichen Pausenplätzen und Momenten, die bleiben. Sie liebt es, gemeinsam mit anderen draussen unterwegs zu sein – egal ob über felsige Grate oder durch tiefgrüne Wälder. Und für alle, die (noch) nicht mitkommen konnten, schreibt sie Geschichten vom Wegesrand: ehrlich, nahbar und mit dem gewissen beAnywhere-Gefühl im Gepäck.
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