Es ist heiss im Rhônetal. Die Temperaturen kratzen diesen Sommer mal wieder an alten Rekorden – oder übertreffen sie gleich. Höchste Zeit, die Flucht in kühlere Höhen anzutreten. Die angekündigten 35 °C für diesen Tag lassen wir lieber weit unter uns im Tal zurück.
Die Fahrt von Savièse ins Tal der Morges zieht sich ganz schön – gefühlt endlos. Aber langweilig wird’s dabei keineswegs. Der Blick schweift immer wieder hinüber zur spektakulär in die Felswand gebauten Bisse du Torrent Neuf, die um diese Tageszeit noch angenehm im Schatten liegt. Die Hängebrücken, die diesen aussergewöhnlichen Wanderweg prägen, lassen mich schon vom nächsten Abenteuer träumen.
Die Strasse schlängelt sich erst durch dichten Bergwald, der mit zunehmender Höhe den blühenden Alpwiesen weicht. Diese präsentieren sich im Sommer in einem Farbenrausch sondergleichen. Bald schon erreichen wir das charmante Hotel Sanetsch, das wie ein verstecktes Juwel in der imposanten Bergwelt glänzt – überragt vom Glacier de Zanfleuron und den bizarren Felsformationen des darunterliegenden Lapis de Zanfleuron.
Auch oben auf dem Pass empfängt uns ein Farbenmeer, das schlicht umwerfend ist: flauschiges Wollgras, weisser Augentrost, gelbe Trollblumen, roter Purpurenzian und tiefblauer Glockenenzian – ein alpines Blütenfeuerwerk, an dem ich mich kaum sattsehen kann.

Zu einer Abkühlung am Meer würde ich jetzt nicht Nein sagen, schlägt mir doch die Hitze sofort entgegen, als ich die Autotür nur einen Spalt breit öffne. Selbst hier am Sanetschpass auf 2'252 Meter ist es bereits zu dieser frühen Stunde erstaunlich und fast unangenehm warm. Es weht fast kein Wind und so erhitzt die Sonne die bräsige Luft mit jeder Minute ein bisschen mehr. Wir wollen keine Zeit verlieren und lieber schnell weiter an Höhe gewinnen. Also schultern wir die Rucksäcke und kehren der Passstrasse den Rücken zu. Gegen Osten schlängelt sich der Wanderweg gut sichtbar die Arête de l’Arpilles hinauf. Immer auf dem sanften Grat führend erklimmen wir die ersten Höhenmeter und tauchen in die beeindruckende Gebirgswelt rund um das Wildhorn ein.
Geröll-Wüsten-Feeling
Mit zunehmender Höhe verabschieden sich die blumigen Alpwiesen, und schroffe, schottrige Flanken übernehmen das Terrain. Der Bewuchs wird spärlich, die Landschaft karger – aber nicht weniger eindrucksvoll. Am einzigen Wegweiser dieser Tour biegen wir auf den nun weiss-blau-weiss markierten Bergweg ab, der sich um eine Flanke windet und uns über noch mehr loses Gestein dem Arpelistock näherbringt.
Die Sonne meint es inzwischen ziemlich ernst, und die steilen Geröllhänge auf fast 2900 Metern bringen uns ordentlich ins Schwitzen. Die Steine haben sich in der Sonne längst aufgewärmt – und langsam stellt sich bei mir ein Hauch von Wüsten-Feeling ein.

Mittlerweile ist das einzige Blümchen, das uns noch hin und wieder begegnet, das charmante Alpen-Leinkraut. Mit seinen zarten lila Blüten setzt es entlang des Weges kleine Farbtupfer – und die geöffneten Blüten strecken uns frech ihre orangenen Zungen entgegen, als würden sie uns ein spöttisches Lächeln schenken. Diese robuste Pflanze fühlt sich auf Schutt- und Geröllfluren pudelwohl, liebt die Sonne und ist selbst in Höhen über 3000 Metern noch zu Hause. Der Weg zum Arpelistock scheint ihr auf den Leib geschneidert.
Wir lassen das kecke Pflänzchen hinter uns und meistern den letzten kurzen, aber knackigen abschüssigen Abschnitt – und dann ist es soweit: der Gipfel ist erreicht.
Kantonswechsel auf 3000 m
Wallis – Bern – Wallis – Bern. Ich kann’s nicht lassen: Das Gipfelkreuz steht exakt auf der Grenze zwischen den beiden Kantonen, und ich mache mir einen Spass daraus, es gleich zweimal zu umrunden. Auf jeder Seite prangt das passende Wappen – Verwechslung ausgeschlossen. Grossartig!
Also: einmal kurz in den Kanton Bern hüpfen, die Brote auspacken und die spektakuläre Rundumsicht geniessen, die uns hier oben erwartet.

Im Osten ragt das Wildhorn imposant in die Höhe, und irgendwo darunter versteckt sich die Cabane des Audannes, der wir vor Kurzem bei einem Trailrun einen Besuch abgestattet haben. Tief unter uns im Nordwesten schimmert der Sanetschsee, während ganz im Westen Les Diablerets mit dem Glacier de Zanfleuron in der Sonne glänzen. Die Karstlandschaft, die das Eis Jahr für Jahr ein Stück weiter freigibt, wirkt beeindruckend – sie steht definitiv noch auf unserer Wunschliste für eine kommende Tour.
Ein Stück weiter entfernt erkennen wir die markanten Gipfel der Tour de Mayen und der Tour d’Aï. Und direkt vor unserer Nase, in südlicher Richtung, zieht sich die Le Sublage wie eine überdimensionale Startbahn über dem Rhônetal. Das Panorama, das sich über die südliche Flanke entfaltet, sprengt fast den Rahmen dieses Berichts: Mont Blanc, Grand Combin, Matterhorn, Dent Blanche – die ganz grossen Namen geben sich hier die Ehre. Und einmal mehr fühlen wir uns angesichts dieser Kulisse ziemlich klein.
Doch irgendwann ist jede Himmelsrichtung abfotografiert, die Brote sind verputzt – und wir machen uns an den Abstieg. Mit jedem Höhenmeter, den wir verlieren, klettert das Thermometer gefühlt um ein Grad. Der Gedanke, einfach oben auf dem Gipfel zu bleiben, erscheint plötzlich ziemlich verlockend. Über die steinigen Flanken geht es zurück zur Arête de l’Arpille, wo wir den leicht abfallenden Grat unter die Füsse nehmen.

Flugkünstler und Wunschvorstellungen
Wie aus dem Nichts huscht plötzlich ein Schatten über den Weg. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, lege den Kopf in den Nacken und durchkämme mit den Augen den Himmel. „Da drüben! Siehst du ihn?“ – Falko ist schneller als ich und zeigt bereits in die richtige Richtung. Und dann entdecke auch ich ihn: einen riesigen Vogel, der majestätisch über uns seine Kreise zieht.
Mühelos gleitet er über die Berge, trägt sich auf den warmen Aufwinden scheinbar schwerelos in immer grössere Höhen. Falko ist sich noch nicht ganz sicher, aber für mich gibt es keinen Zweifel: Das ist ein Bartgeier – in der Region rund um den Sanetschpass keine Seltenheit. Der helle Bauch, der gelbliche Hals, der rautenförmige Schwanz und die weit gespreizten Handschwingen sprechen eine klare Sprache.
Minutenlang verfolgen wir gebannt seine kunstvollen Manöver am Himmel, bis er schliesslich in der Ferne verschwindet. Und ich? Ich wünsche mir plötzlich nichts sehnlicher, als die letzten 200 Höhenmeter ebenso elegant wie er hinunter zum Pass zu gleiten.
Doch dieser Wunsch bleibt ein Wunsch. Also schultern wir unsere Rucksäcke, trotzen der zunehmenden Hitze und nehmen mit müden Beinen die letzte Etappe in Angriff. Jetzt hilft nur noch eins: eine kalte Dusche – und ein grosser Eisbecher.