Mitten in der Nacht auf über 2000 Metern
Kurz sehe ich nur Schwarz, als ich meine Stirnlampe ausschalte. Um mich herum herrscht vollkommene Dunkelheit. Doch langsam gewöhnen sich meine Augen an die Nacht – der Mond steht hoch am Himmel, fast perfekt rund, denn erst vor zwei Nächten war Vollmond. Kein Wölkchen trübt die Sicht, und über uns funkelt ein Netz aus tausend kleinen Sternen. Die Sommernacht ist warm, und trotzdem überkommt mich ein leichtes Frösteln.
Ich atme tief ein und geniesse die Stille – diese besondere Ruhe, wie man sie nur in den Bergen findet. Um mich herum ist nur ein leises Murmeln zu hören, obwohl ich als Wanderleiterin mit einer ganzen Gruppe unterwegs bin. 20 Nachteulen sind mit uns mitten in der Nacht von Leukerbad aufgebrochen, um hinauf zur Gemmi zu wandern.

Die Tour ist Teil der 19. Schweizer Wandernacht, und wir veranstalten mit beAnywhere die Nachtwanderung auf den Gemmipass und rund um den Daubensee. Wir alle tauschen in dieser Nacht unser gemütliches Bett gegen einen langen Aufstieg im Dunkeln. Mit dabei sind Ylva, die als Wanderleiterin einen Teil der Gruppe führt, und Falko, der unser nächtliches Abenteuer fotografisch dokumentiert.
Es ist spürbar: Alle um mich herum geniessen dieses einmalige Erlebnis. Nachts in den Bergen zu wandern fühlt sich noch einmal ganz anders an als tagsüber. Fast so, als würde man in eine geheime Welt eintauchen, die nur wenigen zugänglich ist. Doch der Aufstieg bis zum Pausenplatz war nicht für alle einfach.

Höhenangst schläft nicht
Eine Teilnehmerin hatte bereits weiter unten in der Gemmi Wand mit plötzlich auftretender Fallangst zu kämpfen. Sie war blockiert und auch wenn der „Abgrund“ im Dunkeln weniger bedrohlich wirkt, war eine Pause notwendig. Ylva hat sich ganz auf sie eingelassen, ihr Zeit gegeben, sich der Situation zu stellen. Mit Feingefühl und positiver Energie haben es schliesslich alle gemeinsam bis zum Pausenplatz geschafft.
Höhenangst schläft eben nicht – und Schafe anscheinend auch nicht: kurz vor dem Erreichen des Gemmipass begegnen wir einer Herde, die uns ein Stück begleitet und ihre Glöckchen bimmeln durch die Nacht, bis wir schliesslich gegen drei Uhr morgens den 2’268 m hohen Passübergang erreichen. Ein letzter Blick zurück zeigt die wenigen Lichter von Leukerbad, bevor uns der Weg auf die Nordseite des Lämmerendalu führt.
Pläne sind da, um sich zu ändern
Ab hier wird es flacher, die meisten Höhenmeter liegen hinter uns, doch auch dieser Abschnitt hat seine Tücken. Als der Pfad schmaler und abschüssiger wird, meldet sich eine Teilnehmerin aus meiner Gruppe. Das Gelände ist ihr zu heikel, sie fühlt sich unwohl. Für sie ist an Weitergehen im Moment nicht zu denken. Ich bin immer froh, wenn meine Gäste offen kommunizieren, wenn sie sich unsicher fühlen. So können wir frühzeitig reagieren, unterstützen oder Alternativen suchen.
Nach kurzer Absprache springt Falko ein und begleitet die beiden Teilnehmerinnen mit Höhenangst auf einem einfacheren Weg. So können Ylva und ich mit unseren Gruppen weiterziehen. In der kommenden Passage wäre Fotografieren ohnehin schwierig gewesen – und am Ende des Daubensees werden wir uns wieder alle treffen und den restlichen Weg gemeinsam zurücklegen.

Müdigkeit und neue Lebensgeister
Fast schon meditativ wandern wir dem Ufer des Daubensees entlang. Es ist mittlerweile 4:30 Uhr, und in der Gruppe wird es still. Der Aufstieg und die schlaflose Nacht fordern langsam ihren Tribut. Das Gelände ist meist einfach, verlangt aber stellenweise Konzentration. Immer wieder erinnern Ylva und ich unsere Gruppen daran, wach und achtsam zu bleiben.
Dann endlich: das erste Licht des Tages. Über dem Chli Rinderhorn beginnt der Himmel magisch zu leuchten. Der Sonnenaufgang ist noch über eine Stunde entfernt, aber das zarte Dämmerlicht reicht, um neue Lebensgeister zu wecken.

Wir nehmen den letzten Abschnitt in Angriff, wandern dem See entlang in Richtung Gemmi Lodge. Unterhalb der Plattenhörner ist es bereits taghell, als wir bei der Aussichtsplattform der Gemmi Bahnen ankommen. Das Panorama ist atemberaubend: Die Gipfel der umliegenden Viertausender auf der Walliser Südseite glänzen in den ersten Sonnenstrahlen, während tief unter uns das noch verschlafene Leukerbad liegt.
Auch hier wird kaum geredet – es wird vor allem gestaunt. Ein Moment, den viele wohl lange in Erinnerung behalten werden. Eine Stimmung, wie man sie nur in den Bergen erlebt. Ich schaue mich um und sehe müde, aber strahlende Gesichter. Es macht mich glücklich, dass wir 20 Gästen eine unvergessliche Wandernacht bieten konnten.
Mit Panoramablick, heissem Kaffee und frischen Gipfeli lassen wir unser Abenteuer in der Gemmi Lodge ausklingen, bevor es mit der Bahn zurück ins Tal – und für manche direkt ins Bett – geht. An die staunenden und ungläubigen Gesichter, während wir in der Gondel über unsere Aufstiegsroute in der steilen Gemmiwand schweben, werde ich noch lange gerne zurück denken. 😊
Danke an alle Nachteulen, die mit uns unterwegs waren. Gute Nacht – und hoffentlich bis zur nächsten Schweizer Wandernacht!
