Schon alleine die Fahrt ins Val d'Anniviers ist ein kleines Erlebnis. Tief unten im Rhonetal bei Sierre startet die serpentinenreiche Bergstrasse, windet sich an den steilen Hängen des hier aus sandigem Gestein bestehenden Tal hunderte Höhenmeter hinauf, bis man Vissoie erreicht. Wer mit Reiseübelkeit zu kämpfen hat, sollte in diesem kleinen Bergdorf besser eine Verschnaufpause einlegen, denn am Ziel sind wir hier noch lange nicht. Über das malerische Walliser Dorf Grimentz schrauben wir uns auf kleinen Strassen weiter hinauf, bis es auf die Schlussetappe zum 2'248 m hoch gelegenen Lac de Moiry geht – einem Stausee, der für die Energiegewinnung genutzt wird und neben dem Lac de Dix zu dem riesigen und verzweigten System aus Stollen gehört, das sich vom Mattertal bis ins Val d'Hérens zieht.
Aufstieg zur Cabane de Moiry
Nachdem wir den Stausee erreicht haben, sind wir beinahe am Ziel und gleiten nur noch am türkisgrünen Lac de Moiry entlang, bis zum weitläufigen Parkplatz am Ende des Stausees. Ab hier beginnt der Aufstieg zur Cabane de Moiry – nicht weil wir für diese Tour über den südlichen Teil der Aiguilles de la Lé eine Hüttenübernachtung bräuchten, sondern weil die 2'826 m hoch gelegene Hütte an unserer Aufstiegsroute liegt und mit frischen, hausgemachten Sandwiches lockt, die günstiger als ein entsprechendes Baguette in einer Stadt ist und besser schmeckt – knusprig und herzhaft, genau wie man es in der kühlen Bergluft braucht.

Der Col du Pigne ruft
Das nun folgende Wegstück ist weniger schön als vielmehr nötig, gleicht seine mässige Wegbeschaffenheit (grosse Gneisblöcke, schuttig-sandige Felsplatten) aber mit eindrücklichen Ausblicken auf die Pointe de Moiry und den beeindruckenden Abbruch des Glacier de Moiry wieder aus. Wie lange dieser obere Gletscherabschnitt noch mit dem unteren verbunden sein mag? Allzu lange wird es vermutlich nicht sein...
Glücklicherweise sind es von der Cabane de Moiry nur rund 300 Höhenmeter, bis wir den 3'137 m hohen Col du Pigne erreichen. Wer möchte und Zeit hat, hängt hier noch den Aufstieg auf den 3'396 m hohen Pigne de la Lé dran – wir schenken uns den blockigen Aufstieg aber und wenden uns direkt dem aus schönem Fels bestehenden Grat der südlichen Aiguilles de la Lé zu.

Aiguilles de la Lé – der Südgrat von P. 3190
Auch wenn der in der Führerliteratur beschriebene Gratverlauf diesen Teil oftmals auslässt und direkt ab dem Col du Gardien beschreibt, so bietet der südliche Teil doch einen gewissen Anreiz, denn nur hier überschreiten wir auch den Hauptgipfel der Aiguilles de la Lé, einen 3'190 m hohen Punkt am südlichen Ende dieses rund zwei Kilometer langen Massivs inmitten der Walliser Alpen.
Abwechslungsreiche, nie wirklich schwierige Kletterei wechselt sich mit kurzen Gehpassagen ab, während wir Absatz für Absatz des Grates überwinden und langsam an Höhe gewinnen. Der Fels ist grösstenteils bombenfest, die Aussicht einfach wunderschön und die Schwierigkeit überschreitet nie den unteren dritten Grad. Kurz vor dem Hauptgipfel steilt der Grat auf, aus der Gratkletterei wird eine kurze, leichte Wandkraxelei im zweiten Grad und einer kurzen, knackigeren Stelle, um wieder auf den eigentlichen Grat zu gelangen. Nun dauert es nicht mehr lange und wir stehen am eisernen Gipfelkreuz der Aiguilles de la Lé auf 3'190 m und legen eine kurze Pause ein, um die Energiespeicher wieder aufzufüllen.

Über die Abseilstelle zum spannendsten Gratteil
Kurz nach dem Gipfel wartet eine rund 15 m hohe Abseilstelle auf uns, die uns in eine schattige Flanke direkt unterhalb der Gratkante führt. Nachdem das Seil abgezogen ist, geht es weiter über spannende und abwechslungsreiche Felszacken bis vor den 3'178 m Gendarm, der sich recht abweisend vor uns aufbaut. Was sich als unüberwindbar präsentiert, entpuppt sich vor Ort aber schnell als gut umgehbare Querung und wenig später stehen wir schon am zweiten Gipfel dieser kurzen, aber nicht minder lohnenswerten Überschreitung.
Bohrhaken sucht man im Jahr 2025 hier vergeblich, zum grössten Teil sind die aber auch nicht notwendig. Nur an einer Stelle direkt unterhalb von P. 3178, einer luftigen Querung in mässigem Fels, wundert man sich über den abgeflexten Bohrhaken, der hier einen Seilschaftsabsturz verhindern könnte. Ohne ihn ist eine sinnvolle Absicherung an dieser Stelle schwierig, da dieser Teil der Aiguilles de la Lé gerne auch im Rahmen von Hochtourenkursen überschritten wird, ist der fehlende Bohrhaken einfach schade. Die Hintergründe für die an einigen Stellen erkennbar abgesägten Haken sind uns nicht bekannt – ob es sich um den immer wieder schwelenden Bohrhakenstreit handelt oder andere Gründe hat, können wir also nicht sagen.
Von P. 3178 steigen wir in einfachem Gelände ab bis zum 3'069 m hoch gelegenen Col du Gardien, bevor wir unsere kleine Überschreitung mit dem Abstieg durch ein langgezogenes Blockfeld zurück zur Cabane de Moiry beenden. Erneut warten hier die leckeren Baguettes – oder wollen wir es dieses Mal lieber mit einem Stück Hüttenkuchen probieren? Wie auch immer man sich entscheidet – das entspannte Ausklingen auf der Hüttenterrasse mit Blick auf die umliegenden Berge ist Pflicht, ebenso wie das Bestaunen der gelungenen modernen Architektur der Cabane de Moiry, die gekonnt Alt und Neu miteinander kombiniert.
Zurück ins Tal...
...bedeutet nun einerseits, den kurzweiligen Hüttenweg über die riesige Moräne des Glacier de Moiry erneut unter die Füsse zu nehmen, dieses Mal aber im Abstieg. Ist das geschafft, fehlt aber noch die lange Fahrt zurück bis nach Sierre, wobei sich hier ein kurzer Zwischenstopp in Grimentz anbietet, um die altehrwürdigen Walliser Häuser im alten Dorfkern zu bewundern.
Ein gelungener Ausflug zu einer schönen, moderaten und kurzen Gratüberschreitung über den südlichen Teil der Aiguilles de la Lé geht zu Ende. Was bleibt, sind Erinnerungen an den beeindruckenden, aber viel zu rasch dahinschmelzenden Gletscher und die vielen unvergesslichen Momente auf dieser Bergtour im Herzen des Wallis – ganz getreu dem Motto "Gravé dans mon cœur".